Indikativ vs. IDW S1-Gutachten
Die Unternehmensbewertung nach dem Standard IDW S1 stellt den maßgeblichen Bewertungsrahmen für objektivierte Unternehmensbewertungen in Deutschland dar. Sie wird insbesondere dann herangezogen, wenn ein neutraler Unternehmenswert benötigt wird – etwa bei gerichtlichen Verfahren, gesellschaftsrechtlichen Strukturmaßnahmen oder für die Vorlage gegenüber Finanzbehörden oder Wirtschaftsprüfern. Im Gegensatz zu indikativ-ertragswertbasierten Bewertungen unterliegt das IDW S1-Gutachten klar definierten fachlichen, methodischen und formellen Anforderungen.
Allgemeines
Das IDW S1-Gutachten basiert auf dem Standard „Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen“ des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. Es hat sich in der deutschen Bewertungspraxis als de-facto-Rahmenwerk für objektivierte Bewertungen durchgesetzt. Das Verfahren richtet sich an Bewertungssachverständige, insbesondere Wirtschaftsprüfer, und zielt auf die Ableitung eines Unternehmenswerts aus Sicht eines neutralen Dritten, unter der Annahme eines hypothetischen Verkäufers an einen durchschnittlich informierten Erwerber (sog. „objektivierter Unternehmenswert“).
Subjektive vs. objektivierte Unternehmens-bewertung
Indikative (subjektive) Bewertung:
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Wird in der Regel für Transaktionen oder interne Zwecke erstellt.
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Der Wert ergibt sich aus den Erwartungen und Zielsetzungen eines konkreten Käufers oder Verkäufers.
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Grundlage ist häufig eine individuelle, nicht verifizierte Businessplanung.
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Es existieren keine formellen Vorgaben an Aufbau, Dokumentation oder Transparenz.
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Das Ergebnis ist nicht intersubjektiv nachvollziehbar und nicht gerichtsfest.
Objektivierte Bewertung nach IDW S1:
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Bewertet wird aus Sicht eines neutralen, sachkundigen Dritten ohne subjektive Präferenzen.
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Es gelten strenge Anforderungen an Nachvollziehbarkeit, Plausibilität und Transparenz der herangezogenen Daten und Prämissen.
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Die Bewertung erfolgt unter der Annahme der Unternehmensfortführung (Going Concern).
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Das Ergebnis ist als „intersubjektiv nachvollziehbar“ definiert und für Dritte belastbar.
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Besonders relevant bei: Squeeze-Outs, Abfindungen, Verschmelzungen, gesellschaftsrechtlichen Strukturmaßnahmen, Schiedsverfahren oder steuerlichen Streitfällen.
Der zentrale Unterschied liegt also in der Zielsetzung: Während die indikative Bewertung unternehmerische Entscheidungsgrundlage darstellt, erfüllt die objektivierte Bewertung eine rechtssichere Dokumentations- und Nachweisfunktion.
Formelle Anforderungen an ein IDW S1-Gutachten
Ein IDW S1-Gutachten unterliegt formellen Mindestanforderungen, die weit über die einer einfachen Bewertungsnotiz oder Transaktionsmodellierung hinausgehen. Dazu zählen insbesondere:
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Transparenz der Bewertungsmethodik:
Offenlegung des angewendeten Bewertungsverfahrens (in der Regel Ertragswertverfahren), Herleitung des Kapitalisierungszinssatzes sowie Darstellung der Terminal Value-Methodik.
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Nachvollziehbare Planungsgrundlagen:
Analyse und kritische Würdigung der Planungsrechnungen des Unternehmens, inklusive der Ableitung nachhaltiger Überschüsse und Bewertung der Plausibilität.
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Dokumentation der Einflussfaktoren:
Offenlegung und Bewertung wesentlicher wertrelevanter Sachverhalte wie Marktumfeld, Unternehmensstrategie, Kundenstruktur, rechtliche Rahmenbedingungen etc.
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Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes:
Aufschlüsselung der Herleitung aus risikofreiem Basiszins, Marktrisikoprämie und unternehmensindividuellem Beta-Faktor. Die Zinsermittlung erfolgt marktbezogen und stichtagsgenau.
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Anhang mit Sensitivitäten und ergänzenden Analysen:
Ein professionelles Gutachten enthält Szenarien, Sensitivitätsanalysen sowie Aussagen zur Bandbreite des Ergebnisses bei Änderung wesentlicher Inputgrößen.
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Form und Aufbau:
Ein vollständiges IDW S1-Gutachten umfasst regelmäßig 30–100 Seiten, enthält ein Gutachtenkopfblatt, eine Gliederung nach IDW-Struktur, Erläuterungen zum Bewertungsanlass sowie einen abschließenden Bewertungsvermerk mit Testat.
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Erstellung durch qualifizierte Sachverständige:
In der Regel wird ein IDW S1-Gutachten von Wirtschaftsprüfern oder hierfür spezialisierten Bewertungsexperten erstellt. Es ist für Dritte – etwa Gerichte oder Finanzbehörden – als Fachgutachten verwertbar.
Anwendungs-bereiche
Ein IDW S1-Gutachten wird regelmäßig benötigt bei:
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Abfindungsgutachten (Squeeze-Out, Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge)
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Verschmelzungen, Spaltungen, Formwechseln
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Schiedsverfahren oder gerichtlichen Auseinandersetzungen
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Finanzierungsprozessen mit Banken oder Investoren
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Bewertungsfragen bei Erbauseinandersetzungen oder Scheidungsverfahren
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Steuerlichen Fragestellungen, insbesondere bei Betriebsaufgaben oder Anteilsübertragungen mit Begründungsbedarf gegenüber dem Finanzamt
Zusammenfassung
​Das IDW S1-Gutachten ist die Referenz für rechtssichere und objektivierte Unternehmensbewertungen in Deutschland. Es erfüllt höchste formelle, methodische und dokumentatorische Anforderungen und bietet Dritten – z. B. Gerichten, Finanzbehörden oder Gesellschaftern – eine belastbare Entscheidungsgrundlage. Für unternehmensinterne Zwecke oder erste indikative Wertabschätzungen ist der Aufwand oft zu hoch; in Fällen mit Streit- oder Nachweischarakter ist es jedoch alternativlos.